Interview mit Vivien Neufeld
"Der Tag, an dem der Sommer zu Ende ging" - ein Buch zwischen Verlust und Hoffnung
Über Vivien Neufeld:
Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal verlor Vivien ihre Schwiegereltern und ihren Schwager. In ihrem Buch “Der Tag, an dem der Sommer zu Ende ging”, das nun auch in unserem Online-Shop erhältlich ist, teilt sie ihre persönlichen Erfahrungen mit großer Offenheit und Ehrlichkeit. In unserem Interview gibt uns die junge Autorin bereits einige Einblicke in diese emotionale Zeit nach der Flut und welche Auswirkungen diese auf ihr Leben hatte.

Vivien: Auf die Frage gibt es für mich persönlich zwei Antworten. Zunächst mal die ganz offensichtliche, nämlich dass mit dem 15. Juli 2021 auch unser Sommer ein sehr jähes Ende fand und die Wochen nach der Flut nichts mehr mit der Vorstellung unseres Sommers zu tun hatten, sondern sehr stark durch alles, was die Flut für uns nach sich zog, geprägt waren.
Und dann gibt es da noch eine zweite, weniger offensichtliche Antwort, die für die Titelfindung für mich weitaus ausschlaggebender war. Wer es bis Kapitel 8 im Buch schafft, wird vermutlich verstehen warum.
Vivien: Ich glaube irgendwie hat man ja immer eine besondere Beziehung zu dem Ort oder der Region in der man aufgewachsen ist. Zumindest ist das für mich so. Mit Ahrweiler verbinde ich einfach so viele verschiedene Erinnerungen. Ich war hier Kind, bin hier zur Schule gegangen, habe hier gearbeitet und bin erwachsen geworden. Ich kannte gefühlt jede Straße, jeden Feldweg und jede Abkürzung.
An diesem bekannten Gefühl hat sich einiges nach der Flut für mich verändert. Die Region war und ist ja immer noch in einem stetigen Wandel. Viele Stellen sehen immer noch so anders aus. Das gewohnte Bild ist einfach mit der Flut verschwunden und manchmal ist es für mich immer noch sehr hart, wenn ich durch fehlende Häuser, Brücken oder Bahnstrecken wieder daran erinnert werde, was abgesehen von der Infrastruktur auch nicht mehr ist – nämlich meine Schwiegereltern und mein Schwager.
Also ja, die Beziehung hat sich verändert. Ich könnte und wollte nicht mehr im Ahrtal leben. Ich bin dankbar für alles, was ich in meiner Zeit dort erleben durfte (und immer noch darf, wenn ich meine Eltern oder Freunde besuche oder “einfach so” dort bin), aber ich bin gleichzeitig auch dankbar für die räumliche Distanz, dadurch, dass wir nicht dort leben und/ oder arbeiten.
Ich könnte und wollte nicht mehr im Ahrtal leben. Ich bin dankbar für alles, was ich in meiner Zeit dort erleben durfte [...], aber ich bin gleichzeitig auch dankbar für die räumliche Distanz [...].


Vivien: Die Zeit nach der Flut war ein emotionales Auf und Ab. Das war wahrscheinlich die bislang krasseste und fordernste Zeit meines gesamten Lebens.
Am meisten Mut habe ich durch die wirklich überwältigende Hilfe geschöpft, die wir von Familie, Freunden, Bekannten, aber auch komplett Fremden erhalten haben. Dadurch war das Gefühl “allein” zu sein oft deutlich weniger präsent. Ohne diese Hilfe wären die ersten Wochen wahrscheinlich noch überfordernder für uns gewesen als sowieso schon.
Vivien: Ehrlicherweise hat es mich am Anfang gar nicht so viel Kraft gekostet, weil es für mich durch das Schreiben mehr ein “Ausspeichern” von Gedanken und Gefühlen war, die mir sowieso den ganzen Tag im Kopf herumschwirrten.
Für mich war das also in erster Linie kein Kraft-Thema, sondern mehr eine Herausforderung die Zeit zum Schreiben zu haben. Ohne meinen Mann Harry, der mir ganze Schreibtage ermöglicht und dabei Haushalt und Kinder übernommen hat, wäre das Buch vermutlich immer noch nicht fertig.


Vivien: Gute Frage. Da gab es wirklich einige, denn um die eigenen Gefühle nach außen zu kehren und für Unbeteiligte nachvollziehbar zu machen, musste ich alles “nochmal durchleben”.
Ich habe wirklich oft beim Schreiben geweint oder war abends nach einem Schreibtag total ausgelaugt, weil ich all das Gefühlschaos in meinen Zeilen gelassen hatte.
Aber nur um einen Moment zu nennen, der beim Schreiben noch mal besonders schwer für mich war: mein erster Gang durch den Garten eine Woche nach der Flut und der Tag meines ersten Ganges durchs Haus über drei Wochen danach.
Vivien: Die Frage bedeutet mir sehr viel, denn das war mein “Arbeitstitel” des Buchs. Sie war mein Aufhänger, die Frage, die mir in den Tagen, Wochen und Monaten nach der Flut am häufigsten durch den Kopf ging. Was bleibt von einem Leben? Was bleibt, wenn alles weg ist? Was bleibt nach all dem Schlamm und der Verwüstung?
Ich glaube meine Antwort darauf spiegelt sich auch schon in einigen Antworten auf Fragen vor dieser. Und ich möchte darauf gerne mit einem Zitat antworten, dass auf einem verschlammten Steinherz eingraviert war, das meiner Schwiegermutter gehörte: “Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen.”
Ich glaube letztlich sind es wirklich die Erinnerungen, die uns bleiben und die Spuren der Liebe im Leben von anderen.
[...] die Frage, die mir in den Tagen, Wochen und Monaten nach der Flut am häufigsten durch den Kopf ging. Was bleibt von einem Leben? Was bleibt, wenn alles weg ist? Was bleibt nach all dem Schlamm und der Verwüstung?

Vivien: Die Flut gehört jetzt als ein Kapitel zu meinem Leben und ich glaube es ist wichtig, all das nicht zu vergessen. Aber für mich ist der Blick zurück auf dieses Ereignis nur sinnvoll, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen und dadurch zukünftige Katastrophen anders zu managen.
Persönlich kann ich diesen Tag für mich “abhaken”. Die Erinnerungen an die Zeit davor sind für mich die, an die ich mich erinnere.
Vivien: Oh ja, sehr! Ich meine, theoretisch weiß jeder von uns, dass das Leben hier nicht endlos ist, aber so einen plötzlichen Tod von drei sehr engen Bezugspersonen mitzubekommen holt einen echt von seinem Höhenflug auf den Boden der Tatsachen zurück.
Ich weiß das Leben viel mehr zu schätzen und nehme mein eigenes und das meiner Liebsten nicht als selbstverständlich, sondern als Geschenk wahr. Wir wissen alle nicht, wie viel Zeit wir haben. Also sollten wir es genießen, so gut es geht, tolle Erinnerungen schaffen und Liebe in das Leben anderer bringen. Materielles vergeht, aber Erinnerungen und Emotionen, die wir auslösen, die bleiben im Gedächtnis.
Wir wissen alle nicht, wie viel Zeit wir haben. Also sollten wir es genießen, so gut es geht, tolle Erinnerungen schaffen und Liebe in das Leben anderer bringen.

Vivien: Dass es Hoffnung und einen Ausweg aus einer Krise wie dieser gibt. Auch wenn man ihn in der Situation selbst nicht sehen oder greifen kann. Den roten Faden in der Geschichte erkennt man oft erst hinterher.
Und dass wir nicht in eine Art Schockstarre aufgrund immer häufiger auftretender Katastrophen verfallen sollten, sondern diese Sorge viel eher nutzen sollten, um uns gemeinsam für gute Lösungen für die Zukunft stark zu machen.